Logbuch Finow 22

Sonnabend, 30. Juli 2022, Der Mann mit der Nelkenzigarette

Text: Julian Bellini

Fotos: Thorsten Stapel

Als ich endlich ins Wasser steige, ist es fast ein Gefühl der Erleichterung. Es war nicht so heiß heute, es war keine körperliche Erleichterung, es war die Erleichterung, dass der Fluss noch derselbe ist. Natürlich ist Heraklit auch in Finow gewesen und hat auch hier eingeführt, dass man nicht in zweimal in den gleichen Fluss steigen kann. Aber wiedertreffen kann man ihn, wie einen teuren Freund, und der Fluss weiß auch, dass ich nicht derselbe bin wie letztes Jahr.

Der alte Mann mit der Nelkenzigarette kichert, als ich ihm das erkläre, bis zur Hüfte im Wasser, mit den Füssen nach Balance auf einem rauen Stein suchend. Natürlich ist er nicht wirklich da, ich stelle ihn mir vor, auf einem Klapphocker auf dem Steg, das Hemd mit den hochgerollten Ärmeln, die grauen Haare kurz geschnitten, die Augen zusammengekniffen, vielleicht beißt ihn der Rauch seiner Zigarette, und eben dieser Geruch. Süß riecht das, und wie etwas Altbekanntes, dem man aber nur selten begegnet. Er sieht mir zu, wie ich mit Seife meine schwarzverkrusteten Hände und Unterarme wasche. Natürlich bemerkt er, dass die Seife wieder an derselben Stelle liegt wie letztes Jahr. Was ist das jetzt, fragt er, Logik, weil das wirklich von allen Plätzen an die man ein Stück Seife legen könnte, der Beste ist, oder einfach sentimentaler Quatsch, die Seife liegt da, weil sie da letztes Jahr lag. Ich versuche eine Antwort, ich habe die Seife da gar nicht hingelegt, nicht heute und nicht letztes Jahr, aber er hört mir gar nicht wirklich zu. Er schaut den Mond an. Eine feine Sichel, so fein, dass nur noch ein winziges Stück übrig ist, wie ein kleines Küchenmesser, unzählige Male geschliffen und bald braucht man ein Neues, weil von der alten Klinge nicht mehr viel übrig ist. Ich schaue in die Richtung und staune über den orangenen Abendhimmel, aber ich lasse mir nichts anmerken. Ich will nicht schon wieder irgendeinen sentimentalen Quatsch sagen.

Er ist schon den ganzen Tag da. Er weiß, wie wir letztes Jahr unsere Boote zusammengeschraubt haben, um sie in diesen Fluss zu rollen, und er sieht, dass wir seitdem ein bisschen gelernt haben. Er nickt fast unmerklich, wenn er sieht, dass es diesmal doch schon ein bisschen besser geht. Er sieht alles was wir seitdem ausgebessert haben, welche provisorischen Lösungen wir einfach beibehalten haben und welche neuen Gerätschaften wir stolz auspacken. Auch Georg und ich können uns neue Sachen zeigen, Prototypen, in unseren trockenen Werkstätten gebastelt, wo die Vorstellung vom Fluss so abstrakt ist das man ein bisschen nervös wird, wenn man sie ins Wasser lässt. Absurd scheint es mir manchmal, wochenlange Bastelei, im verschneiten Winter oder in der brütenden Sonne, aber immer in den flussfernen Bergen, als Maßstab für die Tauglichkeit meiner Konstruktionen muss ich fast selber mein Logbuch vom letzten Jahr lesen, so fern scheint selbst die Idee einer Kanalreise. Eine unmögliche Wette scheint es zu hoffen, dass die dort gefundenen Lösungen hier tatsächlich funktionieren sollen. Gleichzeitig fühle ich eine ganz ruhige Vorfreude, eine entspannte Gespanntheit, ein Vertrauen, dass vor uns eine kleine Reise liegt die wir meistern und bestenfalls sogar genießen können.

Anne ist zu uns gestoßen und lernt unsere Boote und unsere Holzöfen kennen. Sie lacht über die Unmöglichkeit ihre Taschen für eine Reise zu packen von der sie nichts kennt außer ein paar Fotos und ein paar Zeilen. Sie hat recht denke ich, und Georg und ich wissen auch nicht viel mehr…

Weniger müde seht ihr aus sagt er, und wirft seine Zigarettenkippe weg. Wie? weniger als letztes Jahr? frage ich, und suche in meiner Erinnerung wie müde ich wohl vor einem Jahr war. Nee, weniger als gestern, sagt er, und er hat recht. Er bleibt nicht, als wir uns zum Abendessen setzen, überhaupt ist nicht viel los am Abend hier am Wasser, er hebt nur die Augenbrauen zum Gruß, und seine Stirn kräuselt sich wie das Licht das, vom Hafenbecken reflektiert, über die Zeltdächer unserer Boote streicht. Schön sieht das aus, und zart, und die feinen Lichtstreifen steigen nach oben, keine Ahnung wieso das so ist und nicht anders. Bestimmt ein gutes Zeichen, sage ich zu Heraklit, aber der nimmt mich nicht ernst undschaut dem stillen Fluss beim Fließen zu.

Montag, 1. August 2022, Der Junge mit dem Eisstiel im Mu

Zeit genommen, mit Moe eine Runde Boot gefahren. Ich erinnere mich ans Kennenlernen des ungewohnten Fahrgefühls, der mir neuen Steuerung, der Koordination des Antriebs und der vielen kleinen Handgriffe. Wir streifen die Seerosen beim Wenden, wir fahren im Zickzack, vorwärts und rückwärts, macht nichts, kein anderes Boot weit und breit zu sehen, niemandem dem wir in die Quere kommen könnten. Bevor wir wieder anlegen noch ein kleiner Abstecher zu den großen Brombeersträuchern am Wasser. Die zusätzliche Sonne die sie zugespiegelt bekommen, haben viele Früchte reifen lassen und wir stehen kippelnd auf dem Boot und auf den Kisten um an die höheren Äste zu kommen, halten uns mit dem Bootshaken an den Ranken fest und sammeln Hände voller Beeren die wohl nicht oft gepflückt werden.

Nochmal Zeit genommen, spazieren gegangen, alten Backsteinen beim älter werden zugesehen. Kleine Innenhöfe mit Holztoren und schiefen Dachschindeln, weicher Kies unter meinen Fahrradreifen. Eine Stadtlandschaft wie Burgen aus meinen Kinderfantasien. Das große Lächeln auf meinem Gesicht wird fast schon offensiv. Ich glaube ich genieße den Tag so sehr, dass ich damit die Frau erschreckt habe die mir gerade entgegen gekommen ist. Ein Mann legt den Kopf auf sein Fensterbrett, er hat extra ein Kissen untergelegt. Der warme Tag lässt die Sonne auf seinen Kopf rieseln. Er hebt nur kurz den Blick als ich vorbeizische.

Mit Schwung komme ich zurück auf den Treidelweg und schieße übers Ziel hinaus, an meinen Kollegen vorbei, das gespiegelte Auge der Teufelsbrücke zwinkert mir zu und schickt mich weiter. Auf dem Fluss paddeln junge Frauen in mehreren Kanus und lachen sich zu. Ich überhole sie und flitze an den Gärten vorbei, ein Mann streicht sein Tor, eine Frau schiebt den Motormäher über den Rasen, unzählige Sonnenblumen versuchen ihre schweren Köpfe abzustützen und ich möchte ihnen das Kissen unterschieben das dem Mann vorhin so gute Dienste geleistet hat.

Der Junge mit dem Eisstiel im Mund sitzt auch auf einem Fahrrad. Er hat seinen Fuß auf einer Bank abgestützt und schaut konzentriert aufs Wasser. Ich halte an, wahre ein bisschen Abstand, seine Spannung macht mich neugierig, so konzentriert und gespannt wie er auf seinem Fahrrad sitzt. Die Kanus mit den gut gelaunten Besatzungen kommen um die Flussbiegung und der Junge setzt sein Fahrrad in Bewegung. Betreten verboten steht auf dem Steg der an dieser Stelle ins Wasser ragt. Er betritt ihn auch nicht. Er fährt Vollgas darauf zu und darüber, bremst nicht ab, schießt über die wenigen alten Bretter und dann über die Spitzen des Schilfgrases, kurz sehe ich sein Spiegelbild im Wasser, das noch ganz still daliegt. Dann zersplittert die glatte Oberfläche und ohne eine Miene zu verziehen tauchen Fahrrad und Junge ein und unter. Die Kanus haben noch gar keine Zeit gehabt anzuhalten oder irgendeine Reaktion zu zeigen. Der Junge steigt neben dem Steg aus dem Wasser und zieht sein, zugegeben, leichtes Fahrrad hinter sich her. Der Eisstiel steckt immer noch in seinem Mund, heimlich grinst er jetzt, kichert vielleicht sogar. Klatschnass schwingt er sich auf sein Rad und fährt gemächlich und ein bisschen schaukelnd an mir vorbei. Der kurze Blick den er mir zuwirft blitzt ein bisschen verschworen. Seine Tropfenspur begleitet mich zurück an unseren kleinen Zeltbooten, die unter den großen Erlen ruhig im Wasser liegen. Er hat hier wohl noch kurz angehalten, vielleicht um Anne, Moe und Ursl zuzuhören, die auf ihren Instrumenten leise improvisieren. Georg ist in Gespräche mit Leuten verwickelt, die auf dem Treidelweg vorbeikommen und Zeit haben um ein wenig neugierig auf uns und unser Projekt zu werden. Zeit genommen um wieder hier zu sein, Zeit genommen um Zeit hier zu verbringen. Zeit bekommen. Hier. Jetzt.

Mittwoch, 3. August 2022, Die Frau mit den Wäscheklammern am Badeanzug

Ich halte Bootswache. Die Kollegen sind im Brandenburgischen Viertel auf dem
Wochenmarkt. Ola und Mauricio, die noch zu uns gestoßen sind und unsere kleine Truppe vollzählig machen, sind mit den Fahrrädern unterwegs, um ein bisschen die Gegend zu erkunden und dann die Helle Stunde auf dem Markt zu erleben.

Der Schleusenwärter kommt extra vorbei um zu sehen ob alles in Ordnung ist, ob und wann wir die malerische Schleuse zum Runterfahren nutzen wollen und um kurz über die Arbeiten an der Hebebrücke zu reden. Ich bin dankbar, dass er mir erlaubt mit unserer kleinen Flotte einen Morgen lang den Anleger der Schleuse zu nutzen. Jetzt und ganz alleine wäre es sehr aufwändig und schwierig gewesen den ganzen Haufen Boote zu bewegen. Ich fühle mich schon mit dem Haufen Geschirr und Frühstücksvorräten der noch beim Anleger liegt
überfordert…

Es ist noch nicht elf Uhr aber schon sehr heiß und ich nutze einen kleinen Fleck Schatten um ein paar Übungen zu machen. Wieder Sonnenblumen, in den kleinen Gärten, aber auch am Weg und am Wasser, gut gepflegt und gegossen leisten sie den Kürbis- und Zucchiniranken Gesellschaft und leuchten in der heißen Luft. Die Frau im Badeanzug ist auf der anderen Seite der Hecke und wir kommen ins Gespräch über die Bienen die unermüdlich über den Zaun hin und herfliegen und jede der großen Blüten sehr sorgfältig nach Nektar absuchen. Während wir reden geht sie unablässig zwischen ihrer schattigen Terrasse und ihrer bunten Wäschespinne hin und her, sie tastet jedes Kleidungsstück ab, im Minutentakt, und entscheidet jedes Mal welches just in dem Moment trocken genug ist, um in einen sauber gestapelten Korb gefaltet zu werden. Jedes Mal, wenn ein neues buntes Hemd, oder eine Hose abgehängt wird, klemmt sie sich die Wäscheklammern an den Ausschnitt ihres Badeanzugs, bald hat sie einen aufwändigen, ägyptisch anmutenden Halsschmuck der zu ihren Schritten leise klappert. Ich spreche es nicht an, aber sie scheint mir, in ihrer unablässigen Beschäftigung, meinen eigenen Müßiggang nicht übel zu nehmen und hält mit mir inne, Gespräch und Bewegung abrupt unterbrochen, als der Specht in der ausladenden Eiche über unseren Köpfen leise zu klopfen beginnt.
Fleißig, die Tiere, nicht? fragt sie rhetorisch und kehrt zu ihrer Wäscheblume zurück, an der jetzt nur noch wenige Farbtupfer hängen. Das mag ich so hier, fügt sie hinzu, hier ist immer was los. Ich werfe unwillkürlich einen Blick nach links und nach rechts, auf den Weg auf dem seit Sonnenaufgang drei Autos im Schritttempo gefahren sind, und den Kanal der spiegelglatt auf die nächste Schleusung wartet. Ja sage ich, etwas unsicher, aber in dem Moment fliegt ein Kormoran ganz dicht an der Wasseroberfläche vorbei und die Blässhühner flattern auf ihren Ruheplätzen auf den umgefallenen Baumstämmen. Ja, sage ich nochmal, hier ist immer was los. Ich kann nicht anders als mich zu fragen ob ihre Bemerkung eine Aufforderung an mich war, und ich bin zugegebenermaßen ein bisschen erleichtert als ich sie später am Vormittag ruhig in einem Sessel im Schatten sitzen sehe. Ihr Blick ist immer noch genauso friedlich und ihr Körper immer noch genauso entspannt wie vorhin.

Freitag, 5. August 2022, Die alte Frau mit der Ente unterm Arm

Vorhin hab ich sie schon einmal gesehen, durch den sandigen Boden des Wegs am Kanal ist sie in Richtung Schleuse gegangen, jetzt kommt sie zurück und bleibt stehen als sie an unseren Booten mit ihren bunten Zelten vorbeikommt. Sie hält die Ente unterm Arm wie einen kleinen Hund, manchmal streicht sie ihr mit der Hand sanft über den Kopf. Nachdem ich sie schon vorhin unbeantwortet gegrüßt hatte, und ihr nun auch wieder Hallo gesagt habe ohne eine Reaktion zu bekommen, verstreichen nun lange Momente in denen wir uns sozusagen gegenüberstehen ohne dass sie von mir Notiz zu nehmen scheint.
Wenn ich Euch so sehe habe ich Lust das auch zu machen, sagt sie unvermittelt und eher vage in meine Richtung. Das freut mich, sage ich und drehe ihr den Kopf zu. Ja, das würd ich auch gern machen, aber richtig, meint sie. Ich unterdrücke ein kleines Lachen. Mein Neffe, der wohnt jetzt schon so lange am Kanal, und da kommen immer Leute aus Berlin, und die legen dann direkt bei seinem Haus an, erzählt sie, und aus ihrem Ton erwarte ich dass diese Leute aus Berlin Pest und Cholera bringen, oder zumindest in die Büsche pinkeln, zu laut Musik hören und ihren Müll nicht mitnehmen. Und jetzt ham sie sich ein neues Boot gekauft und haben ihm das Alte geschenkt, zehn Meter ist das lang und drei
breit, grad isser am Werbellinsee damit, da hätten sie locker noch so‘n Sechser für haben können.

Ich verstehe nur mit ein bißchen Verzögerung, signalisiere dann Interesse. Ja, meint sie, wenn ich könnte, würd ich das immer machen, so aufm Wasser ist doch schön. Ja, mit ihrem Neffen, meine ich, warum nicht. Nee, weil dann ist sie so krank, wenn sie früher immer in Urlaub nach Schweden gefahren ist, dann war das mit der Fähre – seekrank, danach zwei Wochen krank im Urlaub, dann Fähre zurück, und nochmal zwei Wochen krank. Ich muss unwillkürlich wieder lachen. Sie sieht mich ein bisschen vorwurfsvoll an, auf meine Nachfrage sagt sie, ja, sie sei oft in Schweden gewesen, schönes Land sei das, und streicht der Ente unter ihrem Arm zart über den Kopf. Auf dem Boot, da ist richtig Platz zum Schlafen und zum Kochen, ein richtiges kleines Haus ist das, mein sie, die Ente schließt die Augen und legt ihren Schnabel gegen die dünne Jacke die die Frau trägt.
Wir schlafen auch auf den Booten, sage ich, und ernte einen zweifelnden Blick, mit dem sie meine Maße zu nehmen scheint, und beschließt, dass ich sicher nicht ins Innere eines unserer kleinen Katamarane passe. Sie schüttelt den Kopf. Die Ente auch. Und wir kochen auch hier, mit einer vagen Handbewegung deute ich auf Mauricio und Ola die an unseren kleinen Reiseöfen ein Mittagessen zubereiten. Ja, fünf Leute passen auf das Boot, grade sind sie mit den Kindern auf dem Werbellinsee, ignoriert sie meine Antwort.

Wofür haben Sie eigentlich die Ente unter Arm? Da blickt sie mir das erste Mal direkt in die Augen und langsam öffnet sich ihr Gesicht zu einem warmen großen Lächeln. Kleine Falten um ihre Augen und ihre Nase, die schon in ihrem Mädchengesicht mitgelacht haben müssen, eine Strähne aus ihrem Haar weht ihr ins Gesicht. Ihre Hand räumt vorsichtig den Entenfuß, der entwischt war, wieder auf, dann
streicht sie sich die Strähne aus den Augen. Das ist was Schönes, was Sie da machen, sagt sie, was ganz Besonderes. Sie lächelt jetzt verschmitzt, blickt noch einmal kurz zu mir auf, und geht mit ihren kleinen, geduldigen Schritten weiter.

Sonntag, 7. August 2022, Der Waschbär mit dem Ahornbaum

Wir spielen alle unsere kleinen Programme unter einem einzigen, riesigen Ahornbaum, dessen Äste einen großen Kreis formen, in dem die Zuschauer einmal, zweimal um den Stamm wandern um alles nacheinander sehen zu können. Wie ein großes Zirkuszelt umhüllt und verstärkt das Laub unsere leisen Gesten.

Der Waschbär ist direkt über den Köpfen der Leute und schaut sich das Alles eine Weile an. Er sitzt in einer Astgabel und macht große Augen, wenn man ihn ansieht. Als die Leute auf dieselbe Seite des Stammes kommen wird es ihm doch ein wenig zu intim, und leise, aber vor allem gemächlich, zieht er sich zum Stamm zurück, an dem er dann Schritt für Schritt in die Höhe klettert. Viel weiter oben steigt er dann wieder auf einen dünnen Ast, wandert dort im Gleichgewicht bis zu einer passenden Gabel, und bezieht dort Stellung, um auf der einen
Seite nur seinen gestreiften Schwanz zu zeigen, und auf der anderen den gelegentlichen Blicken mit starren Augen aus seiner Maske zu begegnen.

Lang haben wir ihn nicht gestört, wir sind zur Mittagszeit an der Leesenbrücker Schleuse in Marienwerder angekommen, und noch vor dem Abend liegt der Platz wieder so da, wie wir ihn vorgefunden haben, und alle Spuren unseres Festivals das in der Zwischenzeit stattgefunden hat sind wieder verschwunden. Der Waschbär verlässt langsam seinen Aussichtsposten und streift durch die Brombeerranken ans Ufer, wo er die gepflückten Beeren mit leisen Gesten wäscht. Dann frisst er sie zufrieden auf…

Montag, 8. August 2022, Der alte Mann mit der Nelkenzigarette 2

wischen Marienwerder und Finowfurt fließt der Kanal durch den Wald. Der alte Mann mit  der Nelkenzigarette sitzt mir gegenüber und tritt nicht wirklich in die Pedale. Ich habe ein  bisschen das Gefühl, dass der Finowkanal plötzlich herauf fließt. Das Wasser liegt hier sehr still zwischen den hohen Bäumen, und vor unseren Booten kräuselt es keine Welle. Wir  liegen ein bisschen zurück und als sich das Becken ein bisschen verbreitert scheint es als  würden die Kollegen auf ihren kleinen Schiffen durch den Wald schweben. Es riecht nach  Unterholz und schweren Blumen und bis ganz nahe an die Autobahn sind nur die  Vogelstimmen und das Klatschen unserer Tretbootruder zu hören. Der alte Mann lächelt ein  bisschen spöttisch, so sehr komme ich ins Schwärmen. Er hat einen hellen Hut auf und der  Schatten umspielt seine Augen zusammen mit dem Rauch seiner süßlichen Zigarette. Er sitzt mit dem Rücken zu den kleinen Häuschen im Wald, die dem Kanal ihre Sonnenseite  zuwenden, er hat sich das so ausgesucht und will das jetzt auch nicht ändern.

Vor uns gleiten die drei anderen Boote und wecken die Neugier der Waldbewohner auf ihren Terrassen. Wenn sie dann zum Wasser kommen um den seltsamen Gefährten hinterher zu  blicken, tauchen wir erst auf, und im langsamen Vorbeiziehen entstehen zurre  Gesprächsfäden. Eine Frau muss erst ihr Gartentor aufschließen, kommt dann am Steg an  und ruft noch ihren Mann hinzu. Während sie da stehen und mit uns reden fällt ihnen auf,  dass der Steg schmutzig ist, sie bricht das Gespräch abrupt ab und ich sehe sie beim  Weiterfahren mit einem Wischer zurückkommen und energisch ihren Steg schrubben.

Der alte Mann winkt ab und drückt seine Zigarette in einer alten Bonbondose aus. Als er  seinen Hut abnimmt sehe um sich den Schweiß zu trocknen, sehe ich eine kleine  Schnittwunde an seiner Stirn. Vom Rasieren, sagt er als ich ihn darauf anspreche, kichert  kurz, und setzt seinen Hut wieder auf.

Dass mit dem Fahren geht aber deutlich besser als letztes Jahr, meint der alte Mann und  hustet kurz. Er sagt es ausgerechnet während zwei Boote querstehen, weil Anne und ich an  ihrem Antrieb Gummis getauscht haben, die sich durchscheuern und regelmäßig tariert oder ersetzt werden müssen. Ich bin kurz ein bisschen außer Atem, weil ich versucht habe jeden  Handgriff so schnell wie möglich zu machen, schaue ein bisschen irritiert, was ihn schon  wieder ein bisschen spitzbübisch unter seinem Hut hervorblitzen lässt, aber er meint es  ernst, und er hat recht. Sowohl unsere Boote haben sich verbessert als auch unsere  Fähigkeit damit umzugehen, und damit auch unsere Fähigkeit unseren Kollegen zu zeigen, wie man mit diesen Booten über diesen Kanal fährt.

Es riecht sogar mal kurz nach Rauch, während Georg auf seinem Ofen und während der Fahrt frischen Kaffee kocht. Ich grabe, ebenso während der Fahrt nach Schokolade und  Keksen, jemand findet Tassen in seinem Schwimmer und wir tauschen uns, im Zickzack  Positionen wechselnd, eine kleine Stärkung aus. Auch das Schleusen hat sich verbessert, letztes Jahr war es noch jedes Mal eine kleine Herausforderung. Jetzt sind die Tore offen, wenn wir ankommen und wir wissen was wir zu tun haben. Die Schleusenwärter kennen  unsere Reisegeschwindigkeit besser als wir selbst, und sie rechnen für uns mit, bis wohin wir an einem Tag fahren können. Nicht mal auf den Brückenhub warten wir jetzt, sondern falten unsere Dächer ein und kriechen unter der Brücke durch, ganz nah am gebeugten Rücken brummt der Straßenverkehr.

Der alte Mann ist kurz vorher ausgestiegen. Vielleicht wollte er sich das dann sich nicht antun, vielleicht hat er es auch im Rücken. Als ich unter der dunklen Stahlbrücke wieder auftauche sehe ich ihn links an der Straße stehen und mir, die Zigarette schon wieder in der Hand, noch ein kleines Zeichen geben.

Mittwoch, 10. August 2022, Die Jugendlichen mit den vielen Feuerzeugen

Als wir anlegen, sitzen sie auf den Stufen die zum Steg führen. Sie bibbern ein bisschen, obwohl es sehr warm ist. Normal, ihre Kleider sind klatschnass, um sie herum ist eine mittelgroße Pfütze entstanden. Er sitzt zwei Stufen über ihr, sie lehnt sich zwischen seinen Beinen an, und versucht wohl auch ein bisschen Wärme abzubekommen. Sie schnorrt mich um ein bisschen Tabak an, besser gesagt, ob ich ihr eine Zigarette drehen kann. Er schüttelt immer wieder seinen Kopf, als ob er Wasser in den Ohren hätte. Hat er aber nicht, sein Kopf ist trocken, aber seine Haare sind vorne lang, und seine leichten Locken verdecken regelmäßig seine obere Gesichtshälfte. Ich reiche ihr die Zigarette, ganz Gentleman bietet er ihr Feuer an, mit einem Feuerzeug das er ihr aus der Brusttasche stibitzt hat. Als er es einstecken will zieht sie sanft aber bestimmt an seinem Ärmel, und mit einem großen Grinsen, das mal wieder ganz ohne Augen auskommen muss, lässt er es wieder in ihr Hemd fallen.

Vorhin standen sie noch bis zu den Oberschenkeln im Wasser. Sie mit schriller Stimme, er  mit abgehackt wirkenden kurzen Sätzen, als würde sein Organismus mehr Wörter auf einmal nicht zulassen, rufen sie sich zu, was sie mit den Füßen am Grund des Kanals ertasten. Dann angeln sie danach und befördern große Absperrgitter ans Ufer, und ein Fahrrad, das noch recht funktionstüchtig aussieht.

Jetzt haben sie sich ihre vielen Feuerzeuge wieder eingesteckt, sie prahlen damit wie viele sie jeweils haben, kennen außerdem Markennamen von Feuerzeugen, ein Lebensdetail das  ich nie beachtet habe, und ich kann nur ihr Fachwissen anerkennen. Sie sind nicht hier um den Fluß zu beobachten und die Trauerweiden die hier ihre Äste fast bis ins Wasser hängen, oder um das Licht zu bewundern, dass sich jetzt gegen Abend mit immer wärmeren Orangetönen anreichert. Sie sind auch nicht hier um den Biber zu beobachten der am gegenüberliegenden Ufer sitzt und sich minutenlang das Hinterteil kratzt. Sie sind hier, weil  sie sich langweilen. Ihre Sommerferien sind lang und das ist auch gut so, meinen sie. Aber  ihre Zeit scheint einfach nicht vergehen zu wollen.

Mein Freund hat über 350 Feuerzeuge, sagt sie. Ich schaue ihn an. Wenn er nicht weiß, was er sagen soll kitzelt er sie unter den Armen oder an den Rippen. Ich schaue dann automatisch und ein bisschen schüchtern woanders hin. Das macht unseren Gesprächsfluss nicht besser, aber sie kompensiert unsere Lücken mit spielerischer Selbstverständlichkeit. Und eine aus meiner WG, die hat so einen Ständer, wie im Supermarkt, den hat sie voll mit Feuerzeugen, da sind bestimmt 150 drin, und dann hat sie noch mehr in einer Kiste.

Alles an ihr sieht jung aus, sogar die Zähne sehen so aus als seien sie gerade erst nachgewachsen und hätten sich noch nicht für eine definitive Größe und Anordnung entscheiden können. Ihre Augen sprühen vor Energie, während sie erzählt, von ihren WGs, die betreut sind, und wo sie nicht rauchen darf, von ihrem Freund, und ich merke, dass es nicht der junge Mann ist mit dem sie da ist, von ihrer Freundin mit der sie hoffentlich bald zusammen in eine Wohngruppe kommt, von ihrem Drogen- und Alkoholmissbrauch nach  dem Tod ihrer Schwester, von der Ungerechtigkeit des Lebens und ihrer super Bande, die sie abholen kommt nach dem kurzen Klinikaufenthalt den sie vorzeitig beendet hat. Mein Kopf schwirrt ein bisschen vor Informationen und ich frage mich ob der Fluss mich schon so verändert hat, dass ich nicht mehr mitkomme, oder ob ich einfach alt bin.

Der Biber sitzt immer noch da. Wahrscheinlich bin ich einfach alt. Sie lächelt während sie das alles erzählt, er, also ihr bester Freund, sieht betroffener aus. Aber ich kann seine Augen schon wieder nicht sehen, ich kann mich täuschen. Sie müssen dann mal los, er muss zu seiner Tante, auch er wohnt nicht mehr bei seinen Eltern, sie trifft ihre beste Freundin.

Wenig später sitzt ein junger Mann auf derselben Treppe. Er hat immerhin eine Angelrute auf dem Gepäckträger, auch wenn er dem Kanal bis jetzt nicht mehr Aufmerksamkeit schenkt als sie vorhin. Wir reden kurz über Fahrräder, seins, meins, und Georgs, und ich bemerke fasziniert mit welcher Selbstverständlichkeit er sich auf dieser Treppe benimmt als sei sie sein Wohnzimmer, genau wie die zwei Jugendlichen noch vor wenigen Minuten.

Drüben sitzt immer noch der Biber und knabbert an einem Ast. Später kommt sie nochmal kurz vorbei. Noch eine Zigarette, ihre Freundin wartet oben auf der Wiese. Morgen fährt sie in Urlaub an einen See, mit der WG. Und ihrer besten Freundin. Also einer anderen. Letztes Jahr im Urlaub hat sie alle dazu angestiftet nachts und in Klamotten im See baden zu gehen, sie lacht stolz und glücklich beim Erzählen.

Schön so viele Freunde zu haben, sage ich. Ja, schon gut, aber so viele sind’s gar nicht. Richtig gute Freundinnen hab ich nur vier. Sie sieht mir von alleine an, dass ich ihre jüngste Aussage widersprüchlich finde und wirkt kurz nachdenklich. Schöne Ferien Dir, ja danke, tschüss dann. Diesmal waren die paar Stufen mein Wohnzimmer, anscheinend zählt wer zuerst da ist. Die Sonne geht unter und der Biber ist jetzt auch nicht mehr da.

Sonnabend, 13. August 2022, Der Junge mit dem Eisstiel im Mund 2

Er kann gar nicht richtig gut schwimmen. Es sieht ganz gut aus, wenn er vom Steg springt und durchs Wasser schießt, aber jetzt ist er in der Mitte des Kanals und hält eine Hand aus dem Wasser. Er hat eine Libelle auf der Fingerspitze, die auf der Wasseroberfläche lag und nicht mehr hochkam. Er hält sie hoch und trocken und ohne diese Hand wird sehr schnell deutlich, dass er sich ganz gut an der Oberfläche halten kann, aber mehr nicht. Andere, größere Libellen schwirren über seinem Kopf, wie lautlose Rettungshubschrauber, wechseln nervös die Richtung und schweben dann sekundenlang regungslos an derselben Stelle.
Ich hocke im Sand des Uferweges und schaue ihm zu, während ich das Bremskabel am Vorderrad seines kleinen Bruders richtig einbaue. Der fährt hier seit zehn Minuten mit einem Freund hin und her und stellt jedes Mal, wenn er vorbeikommt, eine neugierige Frage, und schleudert mit seinem Fahrrad den Sand in die Luft. Aber sein vorderes Bremskabel war ausgehängt und falsch wieder eingebaut und jetzt haben sie ihre Räder hingelegt und stochern mit langen Ästen im Schilf, und ich habe alle nötigen Werkzeuge zufällig zur Hand
und nutze die Gelegenheit um seine Bremse wieder zum Funktionieren zu bringen.

Mein Papa kann das nicht, meint der kleine Junge als er zufällig entdeckt, was ich tue. Die zwei kleinen Jungs schnappen sich ihre Räder wieder und schießen weiter hin und her. Der Junge mit dem Eisstiel im Mund hängt jetzt an einem Ast, seine Hand ist immer noch in die Luft gestreckt, anscheinend wartet er immer noch darauf, dass die Libelle ihre Lebensgeister wieder zusammensammelt und seinen Finger wieder verlässt. Ganz vertieft ist er in die Betrachtung seiner Hand und geistesabwesend schiebt er den Eisstiel in seinem Mund hin und her. Irgendwann scheint die Libelle endlich zu starten, ich sehe ihn die Hand sinken lassen und ihr lange hinterherblicken.

Na, also geht die jetzt, frage ich den kleinen Jungen als er mal wieder neben mir zum Stehen kommt. Ja, sagt er und flitzt weiter. Sein großer Bruder klettert über ein altes Surfbrett, dass er sich als improvisierten Steg ins Schilf gelegt hat, wieder zurück an Land, und schlüpft ohne sich abzutrocknen wieder in seine Kleider.

Ein Mann schiebt seinen Sohn im Fahrradanhänger am Ufer entlang in meine Richtung um sich nach Etta zu erkunden, die letztes Jahr mit uns unterwegs war. Als sein Sohn ungeduldig wird, beuge ich mich zu ihm und schenke ihm eine leuchtende Hibiskusblüte die von einem Strauch gefallen war. Dante, sagt der Kleine, und grinst mich an. Das Abendlicht färbt sich golden als der Junge mit dem Eisstiel im Mund an uns vorbeigeht und mit den zwei Fahrradakrobaten in Richtung Dorf verschwindet.

Mittwoch, 17. August 2022, Die Jugendlichen, diesmal ohne Feuerzeuge

Sie steht im Supermarkt plötzlich vor mir. Ich freue mich wie über ein Wiedersehen mit einem alten Bekannten, sie auch, sehr offensichtlich. Ich staune, freue mich über das vertraute Gesicht und das große Lächeln, weiß gar nicht, welche Form der Begrüßung in so einem Fall passend sein soll. Ihre beste Freundin ist schon jetzt peinlich berührt. Tatsächlich sind wir uns nur einmal begegnet, während der ersten Woche unserer Reise, und unsere Begegnung taucht kurz vor meinem inneren Auge auf. Die Treppe am Kanal, der Biber, die
nassen Jugendlichen mit den vielen Feuerzeugen, und dass sie ins Ferienlager fahren wollte.

Ich frage sie danach und sie freut sich sichtlich über die Gelegenheit zu erzählen, ihre beste Freundin die auch dabei war, nickt nur manchmal mit dem Kopf, ist vor Allem aber sichtlich entgeistert über die Situation. Wir kennen uns nicht. Wir stehen im Weg. Ich habe es eilig. Sie redet eindeutig zu laut für einen Supermarkt, und ihre Geschichten sind eindeutig zu intim um hier erzählt zu werden. Gleichzeitig ist ihre gute Laune ansteckend, ihr offensives Vertrauen macht mich Lächeln und ich habe keine Lust das Gespräch abzubrechen.
Ich lese meine Einkaufsliste vor, auch um das Thema zu wechseln, greife in die mir unbekannten Regale, sie kommentiert meine Einkäufe, auch ihre Freundin mischt sich jetzt ein, hat eine klarere Meinung zu Lakritze, fürchterlich, schwarzer Schokolade, genial, als zum Baden in der Müritz, so naja. Sie will jetzt aber doch mal suchen was sie braucht. Zu zweit stehen wir also vorm Weinregal, schauen mit schräggelegten Köpfen die Flaschenreihen an und nicken wissend und nachdenklich. Sie nimmt eine Flasche auf gut Glück, präsentiert sie wie ein Sommelier, freut sich, dass ich einverstanden bin und ebenjene Flasche in den Wagen lege.

Wir nehmen Anlauf und schlittern um die Kurve in die lange Reihe Konservendosen, sie steht auf dem Rahmen des Einkaufswagens wie auf einem alten Auto mit Trittbrett, streckt den Arm aus und wirft mir die Dosen zu, die sie schnappen kann, manchmal sind es sogar die, nach denen ich frage. Ich bremse zu scharf ab und sie purzelt kopfüber in die gegenüberliegende Auslage, ein Glück, Taschentücher, die habe ich noch gebraucht. Ihre Hand erscheint in dem Haufen verschiedener Marken und Varianten, eine Vorratspackung ist darin, unversehrt. Sie taucht prustend auf, schnappt nach Luft und schüttelt die kleinen
Päckchen ab die in ihren Kleidern hängen.

Wir wählen Frühstücksflocken aus, indem sie mit geschlossenen Augen in der Mitte des Gangs steht, die Arme ausgebreitet, und sich im Kreis dreht, Stop, rufe ich, und wir nehmen die Pakete auf, die sie beim Anhalten taumelnd zeigt. Wir sprinten zum Kühlregal, legen uns große Mozzarellapackungen auf den Kopf um uns abzukühlen. Der Filialleiter trommelt einen Rhythmus auf einem Vorratseimer Waschmittel, eine Einzelhandelsfachverkäuferin spielt mit Bambuszahnbürsten ein Xylophon Solo auf einem leergeräumten Regalgitter. Schön Dich weiterzusehen, sage ich in der Schlange am Kassenband, Ja, man sieht sich, sagt sie mit Sicherheit in der Stimme, ich lasse ihre Freundin durch, sie legt nur Kaugummis
und ein Feuerzeug aufs Band. Mit Karte zahlen bitte, nein, keine Kundenkarte, danke, ihnen auch noch einen schönen Nachmittag.

Bis ich zur Tür komme sind die beiden schon außer Sicht. Vielleicht hab ich jetzt ein bisschen zu viel in den Taschen, denke ich jetzt. Auf dem Boot sieht der Inhalt eines Einkaufswagens nach übertrieben viel aus, aber irgendwie konnte ich mich nicht richtig konzentrieren.