logbuch finow 21

logbuch finow kanal 2021

Dienstag, 3. August 2021, 2 Uhr morgens

Text: Julian Bellini

Fotos: Beatrice Graf

Wenn ich die Augen jetzt schliesse kann ich es immer spüren. Manchmal muss ich ein bisschen mehr suchen, manchmal ist es überdeutlich. Die Welt schwankt um mich herum. Oder in mir. Der Unterschied ist nicht immer ganz klar.

Seit drei Tagen sind wir jetzt auf den Booten. Endlich, nach den Monaten der Vorbereitung, den endlosen Baustellen,der langen Anfahrt und zu guter Letzt dem anstrengenden Aufbau, schwimmt unser verspieltes, wunderbar einfaches und verwinkelt ausgeklügeltes Zeltdorf nun im Finowkanal.

Drei Tage in denen ich bestimmt öfter auf ein Boot gestiegen bin als in meinem ganzen Leben vorher, ich habe in dem Zelt geschlafen das mich, am Steg gesichert, langsam durch die Nacht wiegt, ich habe alles mindestens dreimal in verschiedene Kästen und Listen ein-und wieder ausgeräumt.

Bin ich auf dem Boot schwankt das Boot und mein Körper gleicht die Bewegung aus. Sie weit so einfach. Manchmal sieht das ein wenig komisch aus, vor Allem wenn ein Fuss auf dem Boot steht, das andere Bein noch am Ufer, und am besten keine Hand frei ist um sich an irgendetwas festzuhalten. Manchmal fühlt es sich so einfach an als hätte mein Gleichgewichtssinn nur auf diese Gelegenheit gewartet, wenn mehrere Personen sich auf dem Boot bewegen und mal die Nase, mal eine Seite, mal die andere, tiefer ins Wasser eintauchen, um gleich darauf sanft wieder nach oben zu schwingen.

Natürlich schwankt da alles, und ich merke es nicht, es ist ein sanftes Trudeln, mein Innenohr in der Badewanne.

Aber natürlich bin ich nicht immer auf dem Boot. Am Wasserhahn muss ich mich bücken und leise sucht mein Gehirn nach der Bewegung die der Boden unter meinen Füssen jetzt machen sollte, sie kommt nicht, lebst der weiche Sand unter dem Gras schaukelt nicht. Ich stehe an der Ladenkasse und frage mich ob man von aussen sieht dass mein Körper sich immer sacht hin und her wiegt, selbst im Sitzen suchen meine Sinne nach den Eindrücken die mir verraten könnten wie ich die nächste Gewichtsverlagerung ausgleichen sollte.

Die Welt schwankt.

Die Welt scheint es gut mit uns zu meinen. selbst wenn wir uns übernehmen und uns zu viel Arbeit an einem Tag zumuten belässt sie es bei einer kleinen Warnung.

Natürlich legen wir zu spät ab, natürlich haben wir doch zu lange gebraucht um das vierte Boot zusammenzubauen. In einer losen Reihe gleiten unsere Tret-und Hausboot Katamarane den Kanal entlang. Kleines inneres Jubeln, viele Eindrücke die ich gerne einen nach dem anderen verarbeiten würde. Kleine Herausforderungen in diesem Fahrzeug das nicht auf hartem Untergrund das für mich tut was Strassenfahrzeuge seit den diversen Skateboards und Dreirädern für mich tun.

Zum Beispiel anhalten wenn ich sie anhalte. Oder nur in eine Richtung auf einmal fahren.

Ich lerne noch was ich tun muss um mich mit dem Boot auf eine ungefähre Richtung zu einigen, lerne mit ihm die Geschwindigkeit zu verhandeln (und es gibt einige Nuancen zwischen « nicht wirklich stillstehen » und « beschwingte Schrittgeschwindigkeit »).

Währenddessen wird es dunkel.

Und es fängt an zu regnen.

Und das Wasser ist da wo wir fahren wollten gar nicht tief genug.

Als die Nacht ihre Schwärze entfaltet hat ist der Schauer schon wieder vorbei, die Boote mehr oder minder festgebunden und es ist nichts wirklich schiefgegangen, aber das tiefe Durchatmen hat eine neue Qualität.

Unser kleines Zeltdorf liegt jetzt locker angeleint am Steg, wir sitzen mit Stephan und Andrea am Steg und reden über Keramikbrennöfen und das Ego in der Kunst, der Einbruch der Nacht ist diesmal eine friedliche Stunde.

Und in kleinen, schwankenden Schritten verhandeln wir mit dem Festival der leisen Gesten, das da in eine unscharfe Richtung schaukelt und in einer ungefähren Geschwindigkeit Fahrt aufnimmt.

Freitag, 6. August 2021, 2 Uhr morgens

Fotos: Torsten Stapel

Manchmal möchte man einfach Durchschnaufen und Geniessen. Hinter uns liegt monatelange Vorbereitung, jede Menge Arbeit und noch mehr Ideen und Träume. Vor uns liegen sicher auch noch ein paar Hindernisse. Einige können wir schon erahnen, andere werden sich in genau dem
Moment präsentieren in dem sie auftreten, manchmal werden sie auch eine sofortige Lösung erfordern, oder eine schnelle Reaktion. Aber dazwischen liegen Momente in denen man einfach innehalten möchte. Momente die man ein bisschen mehr wahrnehmen möchte. Kurze Momente in denen einfach nur das Wirklichkeit wird, was so lange eine Vorstellung war.

Die Boote gleiten übers Wasser, begleitet vom leisen rhythmischen Klatschen der Antriebsruder. Eine kleine Perlenschnur verrückter und bunter Tretboote die uns um den Körper wachsen wie
Wasserschneckenhäuser. Dass auch das Verkehr und Transport ist muss ich mir immer wieder in Erinnerung rufen, so stark ist der Kontrast zu allem was ich in dieser Kategorie bisher gekannt habe.

Oder die Schleuse, die brodelt und unsere Boote in ihrem kochenden Wasser an der Mauer entlang nach oben schiebt. Schwarze Mauern, Muscheln die sich farblich in nichts von den Backsteinen unterscheiden an denen sie Halt gefunden haben. Bis ich meinen Platz eingenommen habe ist ein Tor sowieso schon zu. Dann donnert das Wasser ein und mein kleines Boot wird geschüttelt und gedrückt, und auf einmal ruckelt es mich nach oben. Und während das einströmende Wasser sanfter wird weitet sich oben der Himmel und auf einmal steigt mein Kopf über die gemauerten Backsteine und entdeckt Gras und Blumen neu.

Natürlich ist dieses Innehalten gar nicht möglich, zu viel ist noch zu tun und zu bedenken, zu reparieren und anzupassen. Drei unser vier Boote sind auf ihrem ersten Ausflug seit wir sie umgebaut haben, ein einziger von uns hat Erfahrung mit dem Material und seiner Benutzung.
Ich lerne jeden Schritt und jede Funktionsweise neu und versuche gleichzeitig zu lernen und das Gelernte dann auch Abzuspeichern. Gleichzeitig nicht die Bedürfnisse der Anderen aus den Augen verlieren bitte, gleichzeitig nicht vergessen was noch alles vor mir liegt und meine Aufmerksamkeit früher oder später brauchen wird. Gar nicht so einfach da manchmal tief einzuatmen und das Allerwichtigste zu bemerken.
Wir fahren. Wir sind da wo wir sein wollten. Da wo wir sein wollen.

Und es ist ein aufregender Ort. Wildnis erobert sich Parzelle um Parzelle, Wurzel um Wurzel, ein Reich zurück, das ihr vor nicht allzu langer Zeit entnommen wurde, bebaut mit Bauwerken die dafür gemacht waren lange Zeiten zu überdauern, aus Materialien für die Ewigkeit. Backsteine und Stahl stapeln sich zu eigensinnigen Türmen und in den hohlen Fenstern lassen sich die riesigen Innenräume erahnen. Eine Rückseite. Eine der kleinen Rückseiten der Welt. Ich kenne ihre Strassenseite, manchmal rausgeputzt, manchmal nicht, aber hier geht ein Vorhang auf und ich sehe hinter die Bühne, werfe ein Blick in eine intime Unordnung aus ineinander verwobenen Welten die sich sonst so sauber getrennt halten.

… und am Mittag danach

Ein Gespräch über Mücken. Wir sitzen vor der Galerie Fenster und warten auf die Eröffnung der Fotoausstellung, vertieft in ein Gespräch über einen der Eindrücke die unser Leben auf dem Kanal beherrschen… Und auch hier brechen sofort die Trennungen auf und aus einem Gespräch
über Mücken unter uns entwickelt sich eine Unterhaltung mit einem Gast der mir Besonderheiten seiner Biographie und seiner Gegend um Eberswalde vermittelt. Meine wenigen Entdeckungen aus den wenigen Tagen um diesen Kanal verweben sich mit seinen Erzählungen, Fotos die ich auf den Informationstafeln gesehen habe erhalten von ihm eine Geschichte aus erster Hand. Hallen und Ruinen die mir aufgefallen sind bekommen ihren Anstrich und ihren Betrieb zurück.

Eigentlich ist dieser Eindruck viel beherrschender als die 3500 Mückensorten (belegt) die hier im Umland umherschwirren. Der Eindruck dass zwischen uns und den Leuten die uns begegnen ganz schnell Brücken entstehen. Der Eindruck dass dieses Wasser, das die Dörfer und Städte untereinander verbindet, auch uns Gäste mit den Leuten die an seinem Ufer leben verbinden kann. Eine geteilte Erfahrung. Eine gemeinsame Geschichte die es uns ermöglicht miteinander in ein Gespräch zu schwimmen das friedlich dahingleitet und ebenso viele Überraschungen
bietet wie der Fluss und seine Buchten, seine Ufer und seine Ausblicke.

Während die Dämmerung hereinbricht beginnt der Abend mit Sekt und Spritzkuchen (die mir auch schon mehrmals erzählt worden waren) und Georg und Beatrice beginnen ihr Zusammenspiel das in der  wechselhaften Musik ihres Schlagzeugs die Spannung findet die nötig ist um aus biegsamem, feinem Draht Figuren entstehen zu lassen, die auf ihren wackeligen Beinen stehen bleiben und leise schwanken. Gebannt hat der Kreis aus Menschen die sich für die Vernissage eingefunden haben diese Entstehung begleitet, ist mit dem Drahtgebilde erzittert wenn Georgs Hände, das fragile Gleichgewicht ertastend, eine neue Biegung in seinen Wuchs geben. Das gemeinsame Aufatmen ist spürbar. Georgs Hände lösen sich von der entstandenen Skulptur, Beatrices Rhythmen und Melodien erschauern noch in einer Welle aus der ihr eigenen Gleichzeitigkeit von Stabilität und Nervosität, und kommen dann zur Ruhe.

Ganz ohne Anstrengung formieren sich die Gruppen die die Ausstellung besuchen und die Bilder sehen, Bilder von Frauen die ihren Platz hier so natürlich einnehmen als wären sie hier entstanden, ein Echo einer Stimmung die es in ganz Europa zu geben scheint und die auch hier ihre Schwingungen bildet. Spannend diese Blicke zu sehen die denselben Gegensatz aus Ruhe und Aufregung enthalten den wir gerade gemeinsam erlebt haben.

Aus der zwanglosen Ungleichzeitigkeit der Abendgestaltung ergibt sich eine Stimmung die einem Familienfest nicht unähnlich ist. Vielleicht sind wir in diesem Kreis noch nie zusammengekommen, aber wir gleiten vom Innenraum in den Garten und von dort zur Bar und von einem Gespräch ins nächste und von einer Betrachtung in die nächste. Ich geniesse es wahrzunehmen dass die Kunst, die hier auf verschiedenen Tabletts aufgetragen wird, uns verbindet und sich nicht auf Sockeln und Bühnen zwischen uns stellt. Ein Festival der leisen Gesten das Leute mit Kunst zusammenbringt, und Udo als Gastgeber der die Kunst beherrscht Leute zusammenzubringen.

Der kurze Regen der das Ende des Abends ein wenig beschleunigt sorgt zumindest dafür dass uns die Biodiversität der blutsaugenden Zweiflügler heute Nacht weniger besucht…

Dienstag, 10. August

Fotos: Torsten Stapel

Erstaunlich zu spüren wie sehr sich unser Laben in gewohnten Bahnen bewegt, sobald man diese Bahnen verlässt. Wir verbringen zwei Tage mit Fahren und legen eine Distanz von stolzen zehn Kilometern zurück. Das ist ungewohnt. Es ist vielen Umständen geschuldet aber vor Allem kommt es daher dass keine Notwendigkeit besteht schneller zu sein. Wir geniessen die Sonnenstrahlen auf dem Wasser, wir bewundern die Spiegelungen der Brücken im Kanal, aus dem Bogen in der Luft und seiner Spiegelung entsteht ein Tunnel durch den wir uns von unseren Tretbooten saugen lassen.

Wir geniessen die kleinen Wartezeiten am Schleuseneingang, bewundern die Schleusenbauten die seit ihrer letzten Renovierung vor hundert Jahren (Kupferhammerschleuse?) ihre Arbeit zuverlässig verrichten, uns aus der Erde zu heben oder in die Erde zu senken. Es will uns inzwischen so gemütlich gelingen, als hätte es die Aufregung und latente Überforderung letzte Woche beim selben Vorgang, nie gegeben.

Wobei es natürlich auch unser Glück ist dass wir dem grossen Ausflugsschiff, das sich mit aufreizend langsamer Geschwindigkeit aus dem Schleusenbecken schiebt während wir oberhalb warten, nicht an einer schmalen Stelle begegnen. Immer höher wächst es über das obere Tor der Stadtschleuse während das Becken dahinter vollläuft. Als die Tore sich öffnen schiebt sich ein Rumpf durch die Öffnung der links und rechts keinen Raum für Steuerfehler lässt. Unterm Rumpf anscheinend noch weniger… Wie kleine Kaulquappen zappeln unsere Boote an dieser schwimmenden Insel vorbei und in die Kammer.

Die Stimmung hat sich gewandelt, das Fahren nimmt jetzt weniger Aufmerksamkeit in Anspruch, wir haben jetzt Platz in unseren Köpfen um die Sinne zu öffnen und die Umgebung in uns aufzunehmen, sind verfügbarer für das Zusammentreffen mit den Leuten denen wir begegnen, oder die wir durch das Schilf und die Bäume am Ufer wahrnehmen, und die Veranstaltungen an denen wir auftreten.

Es sind schöne Wahrnehmungen die in meinem Kopf nun langsam zu Erinnerungen werden. Der flüchtig aufblühende Gruss an die wenigen anderen Boote oder ans Ufer, ein geniesserisches Teilen des üppig vorhandenen grünsilbrigen Raumes, der in seiner Wildnis nicht ahnen lässt dass wir uns so nah an der Stadt bewegen.

Der Austausch mit den Leuten deren Universum sich mit unserem überlappt, durch ihre künstlerische Tätigkeit, ihre Einbindung in das kulturelle Leben oder ihre Nähe (und oft Liebe) zu diesem Kanal und seiner Landschaft.

Guten Morgen Eberswalde.

Ein Höhepunkt im Programm der ersten Woche.

Ich habe am Abend vorher das Schlossgut Finowfurt ein wenig erforscht, im Dämmerlicht den Gegensatz zwischen der verwunschenen überwucherten Stuckfassade der Rückseite und der Betriebsamkeit der Vorderseite wo der Samstag vorbereitet wird.

Jetzt strömen Besucher ins Gelände und ich staune über die familiäre Stimmung die sich Raum nimmt, verstehe langsam dass dieses Publikum sich kennt und sich vertraut, so wie es Udo vertraut, der zur Begrüssung erklärt dass, nach über 700 Samstagen in Eberswalde, nun das erste Mal die Stadtgrenze überschritten wurde um den guten Morgen woanders zu zelebrieren. Ein wenig fühle ich mich feierlich, durch meine Teilnahme an diesem ersten Mal.

Da ich sofort danach das Gelände verlassen muss um noch einen anderen Auftritt zu spielen kann ich leider nicht teilnehmen an dem Austausch der sich im Anschluss entfaltet.

Ich entdecke stattdessen eine Besonderheit die ich aus meiner fernen Kindheit im fernen Süddeutschland so nicht kenne. Ich trete auf an einem Zuckertütenfest. In diesem Fall ein Familienfest in einem schönen Park, mit Kindern denen die Aufregung ins Gesicht geschrieben steht. Beatrice an ihrem energisch aufgeladenen Schlagzeug und ich mit meinen beutegreiferischen Frühstücksszenen geniessen die Lockerheit die während unserem Auftritt an den Tischen entsteht, und die Freude der Kinder und Eltern.

Dank Martins Hilfe sind wir rechtzeitig am Zug und ich nehme schweren Herzens Abschied von Beatrice, die unsere Reise verlässt, und wir versprechen uns das gemeinsame Reisen und Spielen zu wiederholen und die Verbundenheit nicht zu vergessen, die aus den wenigen Tagen des Zusammen-er-fahrens entstanden ist.

Rechtzeitig bin ich auch zurück am Schlossgut Finowfurt um die zweite Veranstaltung zu entdecken die heute dort stattfindet. Der Treidelmarkt hat schon begonnen und ich finde eine ruhige Ecke im Treiben aus Musik und Ständen um meinen Tisch mit kleinen Raubtierszenen aufzubauen. Rechtzeitig bin ich bereit, während Etta hinterm Haus Publikum für ihre Kartoffelpoesie versammelt. Als dieses Publikum dann zu mir kommt ist das Licht schon abendlich und in die Dämmerung hinein spiele ich noch zwei Szenen für eine wohlwollende, aufmerksame Gruppe. Die Kinder machen mich darauf aufmerksam dass sie sich an die Szene vom Morgen erinnern und gerne nicht das Gleiche sehen wollen und ich freue mich dass sie wieder gekommen sind, und ich ihnen andere Tiere bieten kann.

Als das Tageslicht erlischt bin ich müde von dem langen Tag mit vielen Begegnungen und Auftritten und geniesse die Musik und das Feuer, komme endlich zum Essen en einem der Stände (auch das Essen ist eine Entdeckung, danke Thorsten), und kann noch ein bisschen die Atmosphäre atmen bevor ich mein Material wieder aufs Boot bringe.

Irgendetwas trifft einen Nerv. Eine Sehne die in Schwingung kommt. Ich beobachte es seit ich hier bin, am Kanal, am Wochenmarkt im Brandenburgischen Viertel, oder an der Galerie Fenster. Nun sehe ich es in den Gesichtern auf diesem Markt, auf beiden Seiten der Stände und Tresen, eine Einfachheit in der Begegnung, eine Neugier die sich schnell entfacht in den Gesprächen die ich beobachte und die ich führe. Ich höre es in den Gesprächen am Wasser, wenn Georg seine Boote vorführt, ob das nun zwischendurch, beim Warten auf die Schleuse stattfindet, oder in einer organisierten Führung, so wie bei Guten Morgen Eberswalde. Und ich sehe es an den offenen Mündern eines Paares, das im Schilf steht und die Boote beim leisen Vorbeigleiten beobachtet.

Und obwohl wir uns so langsam bewegen habe ich das Gefühl schon am heutigen Dienstag in einem wiederum anderen Universum, in einer anderen Welt zu sein. Wir entdecken den Garten von Gudrun Seiler wo heute das Studio Halbelf stattfinden wird. Unsere Camps an Bootsstegen und unter Brücken werden ersetzt durch einen weiss gedeckten Gartentisch zwischen den Bäumen und Skulpturen die hier seit langem wachsen, willkommener Kontrast und warmes Willkommen für unsere ruhige, wilde Truppe.

Mit leiser Geste von Planet zu Planet.

Ein Fest der Sinne.

Freitag, 13. August

Fotos: Florian Heilmann

Ich bin zu nervös…

Auf unserem Festival der leisen Gesten führe ich le Predator auf, ein weiches, verformbares Theaterstück, das sich je nach Anlass in kleine Häppchen zerlegen kann, mehr Musik oder mehr Worte enthalten kann, mehr Körpersprache oder Artistik, oder von den Gesprächen mit den Leuten leben kann die rund um das eigentliche Theater entstehen. Je nach der Situation entwickelt sich ein eigenes Tempo, eine eigene Dynamik der Darbietung, die viel Platz für Improvisation lässt, aber viel Aufregung in meinem Kopf auslöst…

Ich bin auf dem Wochenmarkt im Brandenburgischen Viertel, Helle Stunde mit Kultur, und zum ersten Mal in der jungen Geschichte dieses kleinen Projekts habe ich die Gelegenheit eine gute Stunde durchzuspielen, vor Publikum das zwischen den Marktständen sitzt und immer wieder um ein paar Köpfe hier und da ergänzt wird die einen Teil sehen und sich dann wieder ihrem Einkauf zuwenden. Als ich meine Sachen hinterher wieder packe, sprechen mich zwei junge Männer an, anscheinend hat der Eine dem Anderen erzählt was er bei meinem Stück zu sehen bekommen hat. Und ich muss feststellen dass mehrere Menschen mein ganzes Stück aufmerksam angesehen haben ohne dass ich sie bemerkt habe…


Das hat zwei Gründe.
Zum Einen bin ich zu nervös, noch zu aufgeregt von der neuen, noch fremden Arbeit. Davon sind die Sinne beeinträchtigt, meine ganze Wahrnehmung in diesen Momenten zu fahrig, noch zu viel mit sich selbst beschäftigt um frei um sich blicken zu können.
Und zum Anderen ist der betroffene junge Mann, so wie (anscheinend) eine ganze Gruppe Menschen, hinter mir geblieben, hat sich das Theaterstück von hinten angesehen. Hat dann seinem Freund begeistert davon erzählt, scheint ihm also gefallen zu haben, ist aber hinten geblieben, auf einer Bank in sicherem Abstand. Schüchternheit steckt in diesem Verhalten, sicher, Vorsicht auch, man weiss ja nie was so ein Gaukler mit dem Publikum das ihm zu nahe kommt noch alles anstellen könnte. Aber auch, und das höre ich auch aus Gesprächen rund um diese Morgenvorstellung, eine weit verbreitete Überzeugung nicht in der Zielgruppe von Kunst zu sein. Nicht gemeint zu sein wenn die Kultur in den öffentlichen Raum gebracht wird.

Ich bin froh und dankbar die Gelegenheit bekommen zu haben eine kleine Neugier zu wecken, es ist eines dieser Gefühle für die ich mich für die Arbeit im öffentlichen Raum entschieden habe, und ich bin erleichtert den Neugierigen sagen zu können dass das kein Strohfeuer war. Dass sie mit dieser neu entstandenen Neugier an einem anderen Wochenmarkt wieder auf Udo und seine Helle Stunde treffen werden. Zuverlässigkeit die ich nicht anbieten kann, aber ich bin froh ein Teil davon sein zu können.

Wir sind einige schöne Tage lang, immer wieder zu Gast bei Gudrun Sailer, entdecken ihren Garten und ihre Ateliers und unsere grosse Neugier an den Arbeiten des jeweils Anderen. An den Überlegungen die dieser Arbeit zugrunde liegen, an unseren Lebensgeschichten die uns dazu gebracht haben diese Arbeit zu suchen und den Ausdruck innerer Zustände der damit einhergeht. So unterschiedlich es auch sein mag, mit schwernasser Tonerde im Atelier zu formen oder mit schweissnasser Haut Körpertheater auf der Strasse zu spielen, wir entdecken viele Parallelen in unseren Lebensgeschichten und Intentionen, und ich bin dankbar als sie uns eine Tonplatte zur Bearbeitung überlässt und wir unsere Hände in diese Materie tauchen können um darin zu suchen. Wie viel Zeit vergeht weiss ich nicht, aber unsere kleine Gruppe ist ganz versunken in dieser Berührung, zwölf Hände graben sich durch die Lehmschicht zueinanderhin und wieder auseinander und die sinnliche Erfahrung aus unseren einzelnen Bewegungen eine grosse zu machen spiegelt sich mit unserer Reise und unserer Arbeit.

Schön ist es diese Gruppe auf diese Art noch einmal wahrnehmen zu können, denn es stehen wieder Abschiede an, Abschied von Gudrun die auf ihre Art Teil dieses Abenteuers geworden ist und auch lange Abende mit uns am Steg verbracht hat, und Abschiede in unserer Reisegruppe, die nun ein paar Tage ganz klein ist, bevor neue Kollegen dazustossen.

Auch daran muss ich denken während ich in den Nächten die Sternschnuppen beobachte die in diesen Augustnächten reichlich und hell durch den Himmel schiessen. Kurze Begleiter unseres Weges, und vielleicht neige ich ja zu Melancholie, Nostalgie und Pathos, aber sie gefallen mir so gut dass ich mich gerne mit ihnen vergleiche und in ihnen erkenne.

Alles dauert nur einen Moment.

Dann ists wieder anders.

Ich freue mich darauf.

Fotos: Torsten Stapel

Der Stuhl wackelt.

Schlimmer, seine Füsse versinken im Boden. Auf eine ziemlich unvorhersehbare Art. Das könnte schnell zu einem kleinen Problem werden, denn ich stehe auf dem Stuhl, habe ein Mikrofon in der Hand und versuche trotzdem überzeugend zu singen. Ich bin im zauberhaften Obstgarten des Triangel Camping in Niederfinow und vor mir sitzen im Abenddunkel eine Menge Zuschauer, ich bin mitten in der Show und denke doch darüber nach, dass der Sandboden hier, mit seiner prekären Stabilität, eine ziemlich überzeugende Allegorie für unsere ganze Tournee ist.

Ja, es hält. Meistens. Die kleinen Probleme, die sehr plötzlich auftauchen, sind jedes Mal eine kleine Überraschung, auch wenn sie natürlich da auftreten wo die grösste Belastung ist. Man ist kurz aus dem Gleichgewicht gebracht, bis jetzt hat es sich aber jedes Mal wieder gefangen. Der weiche Boden, den uns die Unterstützung von Udo und seinem Team bietet, fängt die Stösse leicht ab. Die Begegnung mit den Leuten am Kanal ist warm und locker.

Fast möchte man Wurzeln schlagen…

Unter den Obstbäumen streift auch Sara Hasenbrink über den Campingplatz und spielt ihr Close-up Theater für kleine Gruppen Zeltgäste, heute Nachmittag hat Marion Noelle eine Feldenkrais Stunde angeboten, Inka Arlt ist angekommen und hat ihr Glückstück mitgebracht, und ich packe wieder ein paar Tierchen aus. Nach unserem kurzen Moment mit minimaler Belegschaft sind nun wieder neue Kollegen zu uns gestossen und wir entdecken selbst ganz neu welche Angebote unser Festival der leisen Gesten jetzt machen kann.

Wieder scheint es einen Nerv zu treffen, die Stimmung ist wunderschön, und Sibil vom Zeltplatzteam sagt in ein paar warmen Worten dass sie schon lange Lust hatte Kulturangebote machen zu können, und es nun endlich geklappt hat. Ich erinnere mich an ein lange zurückliegendes Gespräch mit dem Direktor meiner Zirkusausbildung, in dem ich das erste Mal den Wunsch formuliert habe, meine Arbeit an Orte zu bringen die nicht überschwemmt sind mit Kultur und Spektakel. Die Lust, den Rahmen jedes Mal neu zu definieren, in dem der Austausch mit dem Publikum stattfinden wird.

Rahmen, die unterschiedlicher kaum sein könnten, und nicht mit allen Eigenheiten hätte ich gerechnet. Nachdem ich im Brandenburgischen Viertel ganz einfach den Kontakt mit den Anwohnern erleben konnte, nachdem wir am Treidelweg in und um Eberswalde in tausend spontane Gespräche verwickelt wurden, wundern wir uns über die fast ausweichenden Blicke bei flüchtigen Begrüssungen hier. Ich suche eine Erklärung in der Selbstsicherheit der Leute, die uns an ihrem eigenen Ort entdecken und ihrer Neugier freien Lauf lassen, im Gegensatz zu den Urlaubsgästen, die womöglich aus der Stadt kommen und nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit auf uns zugehen können.

Es ist schön den Kontakt durch unsere Arbeit herstellen zu können, und es ist schön nicht sofort wieder verschwinden zu müssen, wir geniessen es hier zu Gast zu sein, kommen nun ins Gespräch, und Marion hat den Leuten eine weitere Stunde Feldenkrais im Gras unter den Obstbäumen versprechen müssen.

Derweil geniesse ich die Landschaft, die ebenso unmerklich, und fast überraschend, gewechselt hat wie ihre menschlichen und tierischen Bewohner. Am Morgen höre ich dem Konzert der Kraniche zu, die auf den offenen Feuchtwiesen tanzen und von Zeit zu Zeit über uns schweben. Während wir flussaufwärts dem ein oder anderen Biber oder Eisvogel begegnet sind gibt es hier nun auf einmal jede Menge Frösche die abends im Ufergrass quaken. Ganz im Westen, über den Bäumen am Horizont kann ich noch den grossen Kran ausmachen, der die Position an den Familiengärten markiert an der wir vor einer gefühlten Ewigkeit unsere Reise begonnen haben, sein rotes Positionslicht blinkt in der Nacht, während wir sozusagen in Sichtweite in einer anderen Welt sind, und uns wohl auch selbst verändert haben.

Eine Weltreise. Eine Weltenreise. Ein Katzensprung.

Fotos: Torsten Stapel

Der Westwind schüttelt die Boote und die Planen flattern im Wind, ich habe kein Fenster nach draussen, aber das Zelt ist vom wechselnden Licht manchmal im Halbdunkel, manchmal hell erleuchtet. Unter mir gluckert der Kanal und manchmal platscht es richtig wenn der Wind mein Boot in den Leinen schüttelt.

Ein Pausentag, sozusagen. Wir haben nicht besonders viel zu tun oder zu regeln heute, um so besser, nachdem wir uns gestern ein bisschen verausgabt haben. Wir haben dem Schiffshebewerk Niederfinow einen Besuch abgestattet der uns mehr Kraft gekostet hat als wir dachten.  

Mit drei Booten sind wir den Finowkanal bis zu seinem Ende gefahren, auch das war schon eine neue Erfahrung, weil die letzten Kilometer geradeaus durch flache Heide, im steifen Westwind nicht einfach waren, ein Teil an meinem Fussantrieb ist gebrochen und die notdürftige Reparatur klappert nun bei jedem Tritt und lässt einen Teil der Kraft ins Leere laufen. Die Wasserpflanzen die sich reichlich und schön in der Strömung wiegen, hängen auch oft und viel in meinen Rudern fest und bremsen die Fahrt zusätzlich.

Schon an der Schleuse Liepe wird uns klar dass die Zeit nicht reichen wird um wie geplant mit dem Hebewerk eine Runde Aufzug zu spielen. Als wir dann vom Finowkanal in die grosse Wasserstrasse einbiegen, und gegen den Wind Kurs auf das Stahlungetüm nehmen, sehe ich unsere Boote zum ersten Mal wie kleine Nussschalen auf offener Fläche treiben, und ich tue mich schwer überhaupt zum Anlieger zu kommen der die Wartestelle für die Einfahrt in den Bauch der Maschine markiert.

Einige grosse Sportboote stehen schon Schlange und sind sichtlich nicht begeistert von unserem Auftauchen, und die Gefahr zu spät zur Schleuse zu kommen nimmt uns die Entscheidung schnell ab. Wir drehen bei und schleusen uns zurück in Sicherheit.

Wir besuchen das Hebewerk zu Fuss. Ein Gefühl beschleicht mich beim Betrachten der riesigen Gegengewichte. Ein Gefühl dass beim Erbauen einer solchen Struktur der Gedanke vorherrscht dass diese Grösse nicht übertroffen werden wird. Dass schon so gigantisch gedacht wurde dass man meinte damit alle Bedürfnisse der Zukunft schon zu bedienen. Das Ausmass der kreativen Energie die nötig ist um sich diese Maschine auszudenken, die buchstäblich Berge versetzt, ist deutlich zu spüren.

Nun stehe ich da und sehe durch die Masse der ordentlich unübersichtlichen Stahlträger hindurch die glatten Betonfüsse des neuen Hebewerkes. Ich muss an die Weltrekorde vom letzten Jahr denken, die Georgs Tochter im Internet bestaunt, und in deren Präsentation schon steht, seitdem übertroffen…

Der Rückweg nach Niederfinow ist gegen den Wind nochmal deutlich anstrengender, und wir sind glückliches geschafft zu haben, und die Boote sicher angebunden zu haben, bevor uns Wind und Regen in unsere Zelte treiben.

Glück mit dem Wetter merkt man am besten, wenn man gerade noch Zeit hat sich vorzubereiten und nur leicht angefeuchtet unter einer Plane sitzt die einem die Tonspur des nasskalten Wetters wie eine Verstärkermembran hörbar macht.

Schon verschwinden die schwülheissen Sommertage am Campingplatz in der Erinnerungskiste, farbenfroh eingepackt in einen wunderschönen Abschied, zu dem sich viele Gäste und ein Akkordeon auf dem Deich eingefunden haben. Erstaunlicher und erfreulicher hätte der Gegensatz zu unserer Ankunft nicht sein können, und ich war sehr berührt von dieser Geste. Pünktlich haben wir abgelegt und sind in Richtung Schleuse davongetreten.

Dass wir nach 50 Metern wieder anhalten mussten um auf die Schleusung zu warten war in diesem festlichen Verabschiedungsakt geradezu perfekt inszenierte Komik…

Nun liegen unsere Boote dichtgedrängt in Niederfinow, und als gestern Abend das graue Abendlicht im Regen die Farben verblassen lässt, entsteht ein Eindruck von einem kleinen Weiler der den Häuschen am Kanal auf einmal ähnelt. Unaufdringlich und bescheiden zwischen den Uferweiden. Ein Anblick der in mir das Gefühl auslöst am richtigen Ort zu sein, wie eingebunden in diese Ufergemeinschaft.

Natürlich kommt dieses Gefühl auch davon dass wir unsere nächsten Gastgeber gerade kennengelernt haben. Wir haben sogar schon das erste Abenteuer zusammen bestanden, beim Einrichten eines provisorischen Steges an ihrem Grundstück.

Gemeinsam sind wir nass und dreckig geworden und haben es nicht geschafft den Schlick am Grund zu vermeiden in dem ich neulich den ersten Blutegelbesuch meines Lebens bekommen habe. Noch so ein Raubtier, wer weiss, vielleicht wird ja eine Nummer für meine Show daraus, für zukünftige Auftritte, in denen dann unsere ganze auf der Finowreise gesammelte Erfahrung einfliessen wird.

Ich merke deutlich, die letzte Woche ist angebrochen und bringt ihre eigene Stimmung mit. Ihre eigene Herausforderung, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren während man schon das Bald und das Danach im Blick haben muss.

Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.

Aber man kann es jedes Mal geniessen.

Samstag, 21. August

Vor ein paar Tagen wollte ich wieder Reisebuch schreiben, habe Zeit gefunden mich hinzusetzen, saß da und wusste nicht wie ich anfangen soll. Das war mir bis dahin noch nicht wirklich passiert, und ich habe eine Weile gebraucht um zu verstehen woher diese kleine Schreibblockade kam. Ich hatte Angst mich zu wiederholen.

Ich hatte das erste Mal das Gefühl die Situationen und die Gefühle die ich beschreiben wollte, hatte ich nicht das erste Mal auf dieser Tour. Na gut, dachte ich, vielleicht ist das ja der richtige Moment, wenn ich jetzt dieses Gefühl habe, dann ists ja nur folgerichtig wenn die Tournee jetzt bald vorbei ist.

Aber alles ist so verändert.

Auch wenn die Tage jetzt natürlich denen ähneln die ich zu Beginn unserer Reise beschrieben habe. Wie könnte es anders sein, seit drei Wochen bin ich mit den Booten und den Auftritten beschäftigt, Parallelen tauchen auf, zum Glück, das heißt zuallererst dass meine neu gesammelten Erfahrungen mir schon jetzt gute Dienste leisten können.

Gleichzeitig ist nichts gleich geblieben, es ist keine Wiederholung, es ist ein neues Erleben. 

Das Fahren ist nicht mehr das Gleiche. Es ist fast schwierig, diese beeindruckte Ehrfurcht wiederzufinden, mit denen ich den Booten auf dem Kanal das erste Mal gegenüberstand. Ich fühle mich nicht mehr überfordert vom approximativen Fahrverhalten meines Bootes. Kann ich wirklich auf einmal so gut fahren? Oder habe ich mich nur daran gewöhnt, dass es sich so verhält wie es sich eben verhält. Habe ich gelernt die erforderlichen Schritte einzuschätzen die das Boot so gegen die Strömung lenken, dass es sich von selbst an den Anleger schiebt und in die gewünschte Position schwenkt, weil ich ein Seil anbinde und den Rest des Bootes darum kreisen lasse? Oder habe ich mich nur daran gewöhnt dass es nie genauso funktioniert wie ich es mir ausgedacht habe, und vertraue jetzt auf die Weichheit des Wassers und der Bewegung schwimmender Objekte?

Ich weiß es nicht.

Auch das Wohnen und Schlafen auf den Booten fühlt sich richtig und einfach an. Ich muss nicht mehr überlegen wenn ich den Antrieb zusammensetze, ich muss mir das Zelt nicht mehr neu ausdenken um es über sein Gestell zu entfalten und für die Nacht einzurichten.

Ist das weniger Worte wert? Weniger Zeilen in diesem Tagebuch? Ich weiss es nicht.

Aber der Eindruck in mir ist stark. der Eindruck Weg zurückgelegt zu haben. Nicht Kilometer. Einen Weg gegangen zu sein.

Georg und ich müssen zu den Fahrzeugen die in den Familiengärten stehen. Wir fahren die baumbestandene Einfahrt entlang und halten beide kurz die Luft an, weil wir beide den starken Gegensatz bemerken, zwischen der Zeit die rasend schnell vergangen ist seit wir unsere Reise angetreten haben, und der Ewigkeit die zwischen uns und unserer ersten Ankunft hier zu liegen scheint. Als wäre das schon ewig her…

Schwer einzuschätzen.

Viel einfacher ist es da, bei dem Nachbarschaftsfest anzukommen bei dem wir unsere Stücke spielen. Wir treten in einen Garten am Kanal ein, die Kinder sind nett und neugierig, die Erwachsenen sind mit den Vorbereitungen beschäftigt, mitten in der Woche werden sich ein paar Familien zusammenfinden und unsere Anwesenheit zum Anlass für einen kleinen festlichen Abend nehmen.

Schon nach wenigen Minuten sind wir einfach da und ich wundere mich nicht mal über die Einfachheit das Ankommens hier. Als die ersten Gäste eintreffen sind wir schon ein Teil des Abends, ein Teil des Gartens und richten unsere Spielorte in verschiedenen Winkeln des großen Gartens ein. Sogar Etta, die erst jetzt, nach ein paar Tagen Abwesenheit von der Tournee wiederkommt, findend sofort ihren Platz, fühlt sich ohne Eingewöhnungszeit ebenso willkommen wie wir.

Ein kleiner Kreis aus Nachbarn und Freunden findet sich ein und nach dem Abendessen spazieren sie durch den Garten und machen Station vor den kleinen Shows, die wir ihnen anbieten. Ich bin berührt davon, wie froh ich mich fühle ins zuhause wildfremder Leute eingeladen zu werden und ihre Aufmerksamkeit zu empfangen wie ein Geschenk, und ich bin noch glücklicher als einer unserer Gastgeber an Schluss ein paar Worte sagt und  seine eigene Freude zum Ausdruck bringt, sein Gefühl ein Geschenk von uns erhalten zu haben.

Nur zwei Tage später habe ich die Gelegenheit in einem weiteren Garten meine Raubtiere zu spielen, ein Zirkuswochenende beginnt mit vierzig Kindern, und wieder tauche ich ein in eine ganz andere Welt, wieder kann ich mit meinem Stück in die Augen anderer Leute eintauchen. Ehrlich gesagt rede ich so viel davon weil ich mich so freue dieses neue Stück zu entdecken, die Möglichkeiten die sich mir bieten jeweils neue Stimmungen aufzunehmen und zu verarbeiten. In diesem dunklen, wilden Garten mit den Kinderaugen vor mir entsteht ein völlig anderes Stück als auf dem Marktplatz im Sonnenschein. Stimmungen die ich nicht planen kann, die ich nicht vorhersehen kann, Stimmungen in die ich eintauche und aus denen ich meine Aufführung erst forme.

Und wieder sinkt die Sonne über einem schönen Garten in dem ich zu Gast bin, wieder fühle ich die Großzügigkeit dieses Projekts das es mir ermöglicht über meine Kunst in einen so angenehmen Austausch mit den Leuten zu treten die uns ihre Türen öffnen.

Und ich trete gerne ein.

Festival der leisen Geste – ein vorläufiger Abschluss…

Wir biegen in Finow vom Kanal ab, in das kleine Becken mit den Anlegern und der Rampe zum Auswassern der Boote. Während wir die Teufelsbrücke durchfahren, die mit ihren Stahlaugen das Leben am Wasser und am Ufer überwacht, fallen die ersten Regentropfen und lassen ihre kleinen Kreise im stillen Wasser aufblitzen. Georg und ich müssen lachen beim Einfahren, während unsere Boote an den Steg unter die Erlen gleiten fällt eine Spannung von uns ab, und als es zwei Minuten später regnet sind die Boote schon unter ihren Zeltplanen geschützt.

Die Erleichterung ist tatsächlich enorm, weil wir in den vergangenen 24 Stunden all die Kilometer Kanal wieder abgefahren sind die wir in den drei Wochen Tournee kennenlernen durften. Weil uns Regen den ganzen Tag angekündigt wurde, und wir es nun doch geschafft haben in diesen sicheren Hafen einzulaufen ohne nass geworden zu sein. Weil wir trotz der neuesten technischen Probleme, trotz unserer Zweifel, trotz der Unterbesetzung der Boote und unserer Müdigkeit eine weitere große Etappe geschafft haben.

Die ganze Fahrt, diese ganzen Tage und kleinen Etappen, jeden Zwischenhalt den wir gemacht haben um am Ufer und im Umland etwas zu erleben, wir konnten sie alle in dieser letzten Fahrt Revue passieren lassen und ein bisschen wiedererleben.

Aufgebrochen sind wir diesmal nach dem Guten Morgen Eberswalde am Barnimer Brauhaus. Wir haben uns ein letztes Mal alle getroffen. Georg und ich, mit Etta und Inka, mit Udo und seiner Crew, und tatsächlich mit sehr viel Publikum, darunter auch ganz viele Zuschauer die wir in diesen drei Wochen schon kennenlernen konnten. Leute die wiederkommen, und wieder mit ihrer Aufmerksamkeit unsere verschiedenen Räume und Ecken ausleuchten. Eine kleine Reise an sich. Zwischen dem Bahnhof Niederfinow mit seiner alten Panzerverladerampe, und der Brauerei gegenüber mit ihrem kleinen Hof und ihren lauschigen Gärten, liegen Welten. Welten die gefüllt sind mit Gesprächen, Zusammentreffen und Neugier.

Wir müssen los, wir müssen auf die Boote. Wir müssen uns auf den Kanal, auf den Weg, machen. Und schaffen es fast nicht uns loszureißen von dem Austausch der entstanden ist, der auf immer mehr geteilter Erfahrung aufbauen kann.

Auch am Anleger sind noch Leute, und das ist ein Glück, denn einige von ihnen kommen mit uns um zu versuchen uns zu helfen gegen die leichte Strömung anzutreten. Um uns zu helfen unter der Kippbrücke durchzukommen, die ein klein wenig zu niedrig für uns ist und sich doch nicht zum erhofften Zeitpunkt öffnet. Und einfach um zu winken.

Wir sind ein bisschen eingelassen worden. Wir konnten ein bisschen ankommen. Wir haben versucht unsere Augen zu öffnen und unsere Umgebung zu sehen. Wir haben uns darauf eingelassen. 

Wir haben die Gelegenheit genutzt um etwas zu zeigen. Uns zu zeigen. Das was wir tun und die Art wie wir leben. Unsere Fortbewegung, unsere Behausung, unsere Küchen, wurden ebenso wahrgenommen wie unsere Auftritte, unsere Kunst und unsere Lebensgeschichte die zu dem führt was wir hier machen. Ganz sicher haben wir aber auch etwas ganz anderes gezeigt. Sichtbar wird das auf ganz deutliche Art und Weise, als uns klar wird, dass alle die uns nun auf den paar Kilometern Kanal begleiten, in all den Jahren die sie nun an seinem Ufer wohnen, noch nie auf ihm gefahren sind.

-Da müsst erst ihr aus aller Herren Länder kommen, damit ich endlich mal schleuse…

-Ach so. Stimmt. Wir wollten Euch ja auch Eure Umgebung neu zeigen. Wir wollten Euch ja eine andere Perspektive geben. Wir wollten Euch ja Eure Welt neu entdecken lassen. Zumindest wollten wir es versuchen…

Manchmal erreicht man Ziele die man sich vorgenommen hat, von denen einem aber gar nicht klar war wie sie aussehen würden. Vielleicht ist das dann ein Abenteuer?

Als dann am nächsten Abend keine Boote mehr im Wasser liegen, weil wir vier Mal mit dem Hänger hineingegriffen haben wie mit einer Schöpfkelle, weil wir wieder in Einzelteile zerlegt haben, was uns drei Wochen lang als Haus, Werkstatt und Fahrzeug gedient hat, weil wir einsortiert haben was wir scheinbar nachlässig aufgefächert hatten, als dann die Sonne untergeht über dem leeren Becken und uns die Teufelsbrücke nochmal zuzwinkert, da erinnert mich diese Fahrt doch sehr an die Zirkuszelte und die Festivals die ich abgebaut habe, und die einen leeren Platz hinterlassen, wo eben noch ein kleines Theater, eine kleine Stadt gelebt hatten. Leicht fühlt es sich an, einfach, spielerisch. Eine Welt entstehen zu lassen in der Menschen sich treffen können, in der wir uns kennenlernen durften, und wachsen konnten an dem gemeinsamen Erleben.

Das Wasser kräuselt sich im leichten Wind und ich kneife die Augenlider zusammen gegen das gleißende Licht. Aber hinter mir, an den Ziegeln der alten Fabriken, an den Blättern der alten Bäume, da tanzen die Projektionen und Reflektionen der kleinen Wellen und ihr Schauspiel blendet nicht. Es macht kein Geräusch, es drängt sich nicht auf. Spuren einer Bewegung, lesbar an jeder Oberfläche.

Vielleicht kann man auch unsere Spuren noch lesen wenn wir schon weg sind, leise, unscheinbar, flüchtig wie der Windhauch auf dem Kanal.

Und vielleicht sind wir ja gar nicht weg…

Ich schwanke…

Gerne…

Danke, Julian…

Mitgewirkt haben außer Udo Muszynski und seinem Team noch unzählbar viele Personen, noch mehr Hände, Füße, Augen und Ohren. Danke.

Mitgefahren sind Georg Traber, Julian Bellini, Etta Streicher, Benoît Vivien und Myrtille Harris, Béatrice Graf, Inka Arlt, Sara Hasenbrink und Marion Noëlle, sowie Lilo, Lilou, Pimprenelle, Ole und Alfons

www.traberproduktion.ch

http://lebellini.blogspot.com/https://ettastreicher.wordpress.com/

https://cievoilalenchantement.wordpress.com/

www.beatricegraf.ch

www.inkaarlt.de

www.hasenbrink.org

Die erste Tour 2021 auf dem Finow Kanal machten möglich:

Teresa Larraga, Julian Bellini, Schöbi Geissbühler, Moritz Praxmarer, Lilo Traber, Barbara Meyer Cesta, Ruedi Steiner, Beatrice Graf, Etta Streicher, Marion Noëlle, Sara Hasenbrink, Udo Muszynski, Julia Heilmann, Ruben Pagenkopf, Roger Guy, Constantin Soutter, Guiliano Tognetti, Lehmann Walther, Myrtille Harris, Benoît Vivien, Audrey Bossuyt, Georg Traber

Förderer

Mit freundlicher Unterstützung des Institut francais

Förderer

Mit freundlicher Unterstützung des französischen Ministeriums für Kultur/DGCA

Kooperationspartner

Familiengarten Eberswalde, Barnimer Brauhaus GbR, Atelier Gudrun Sailer, Keramik Atelier Andrea Forchner & Stefan LaubBearbeite „Festival der leisen Gesten“Bloggen auf WordPress.com.